Bundesliga ist eine riesige Unterhaltungsindustrie
Artikel: "»Wir brauchen Wertschätzung und Respekt«", Schwarzwälder Bote, Ausgabe Nagold, 12.11.2022
Emotional, wortgewaltig und grammatikalisch im besten hessischen Dialekt, der Auftritt von DFB-Lehrwart Lutz Wagner im Sportheim des FC Neuweiler war eine Werbung für das Schiedsrichterwesen im Fußball.
Eingeladen hatte die Schiedsrichtergruppe Calw. Als Gäste konnte deren Obmann Benjamin Haug auch Vereinsvertreter und Kollegen von den Schiedsrichtergruppen Böblingen und dem Nördlichen Schwarzwald begrüßen. Der 59-jährige Lutz Wagner präsentierte sich vor den gut 80 Zuhörern von der ersten Minute auf der 100-Prozent-Marke.
Als langjähriger Unparteiischer mit 197 Einsätzen in der 1. Bundesliga und aktueller Schiedsrichter-Beobachter bringt er seine Erfahrung nicht nur medial auf diversen Kanälen ein, sondern auch an der Basis vor Ort.
Foto: Schwarzwälder Bote
In Neuweiler hatte er eine Reihe von Szenen aus der Bundesliga und der Champions League vorgestellt, die alle für sich aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln die Komplexität der Aufgaben von Schiedsrichtern aufzeigte.
Eines schimmerte vom ersten Moment an durch: »Der große König Fußball wäre ohne die Unparteiischen ein ganz kleines Würstchen.« Aktuell sind in Deutschland 50 261 Schiedsrichter gemeldet, 93 Prozent davon pfeifen auf Kreisebene. »Wer heute Verbandsliga pfeift, der gehört schon zu den zwei Prozent der besten Schiedsrichter«, stellte Wagner anhand einer Aufschlüsselung fest und ergänzte: »Wir haben bestimmt 3000 Unparteiische die ein Bundesligaspiel leiten könnten.«
Aber, so der Lehrwart, auch Top-Schiedsrichter haben Optimierungspotenzial. Das reicht vom Ermessensspielraum bis zum Laufverhalten. Bei letzterem habe sich der Fußball massiv verändert. »Das Spiel ist schneller geworden. Es gibt fünfmal so viele Kontakte wie früher, zu Zeiten von Overath und Netzer. »Damals hatte ein Spieler 40 bis 50 Ballkontakte, heute sind es über 200«, stellte Lutz Wagner zur sportlichen Entwicklung des Fußballs fest.
Und dann ging es mit Vollgas ins Detail, und der Lehrwart verteilte auch die passenden Tipps. Ganz wichtig ist für ihn die Vorbereitung auf ein Spiel. »Wer das nicht macht verschenkt 50 Prozent seines Potenzials.« Als Beispiel führte er das Stellungsspiel im Zentrum an. »Meidet den Mittelkreis. Das ist der Platz für die Zentrumspieler. Wenn der Ball zu einem Umschaltspieler kommt, dann müsst ihr schon den Kopf heben und vorausschauen. Wichtig ist, dass ihr schon einen Schritt weiter seit als die Spieler.« Acht bis zwölf Meter sei der Idealabstand zum Geschehen. »Der Winkel ist wichtig. Achtet darauf, dass ihr von der Seite reinschaut.« Eine gewisse Nähe schaffe auch Akzeptanz. »Ihr müsst bei den Spielern den Eindruck vermitteln: Obla, der passt aber auf.« Das würde bei den Spielern schnell die Lust auf das Austesten bestimmter Situationen einschränken. Er führte den ehemaligen Frankfurter Stürmer Bernd Hölzenbein als Erfinder des gesuchten Kontakts als Beispiel ins Feld.
»Lauft nicht zum Tatort und wenn, dann nur mit einer Aufgabe und kurzen Anweisungen, denn es gibt keinen Dialog sondern nur Monolog«, sieht er die Gefahr dass der Schiedsrichter seine Reputation verlieren könnte. Lutz Wagner räumte ein, dass es nahezu unmöglich ist, Fehler zu vermeiden. »Wir haben in einem Stadion über 20 Kamerapositionen. Auch im ›Keller‹ sehen die nicht alle. Wenn die Techniker eine falsche Position auswählen verfälscht sich das Bild.«
Seine extreme Regelkunde blitzte in zahlreich mitgebrachten Szenen aus den letzten Wochen mit diversen Handspielen, Fouls oder umstrittenen Elfmetersituationen auf, die allerdings auch die Frage aufgeworfen haben, wie die Unparteiischen diese bei diesem Tempo alle umsetzen sollen. Dass sich die Schiedsrichter bei vom »Keller unterstützten Spielen« zunehmend auf die Videoassistenten verlassen, empfindet er als keine gute Entwicklung wie vieles im Fußball.
In der abschließenden Fragerunde, in der Alexander May (SV Althengstett) unter anderem die Vorbildfunktion der Bundesliga angesprochen hat, kam dies deutlich zum Ausdruck. »Die Bundesliga ist heute eine riesige Unterhaltungsindustrie und hat keinen guten Vorbildcharakter.«
Was das Schiedsrichterwesen angeht, sieht er die Problematik weniger in der Gewinnung als im Halten der Unparteiischen. Viele, besonders junge Schiedsrichter, würden mit dem Verhalten an der Basis nicht zurechtkommen. Da würden viele Eltern bei einem D-Jugend-Spiel schlimmer reagieren als die Bundesligaspieler. Auch eine finanzielle Besserstellung sei nicht die Lösung. »Geld ist sicherlich ein Thema, reicht aber auf Dauer als Motivation nicht aus, die muss von innen kommen. Was wir brauchen ist Wertschätzung und Respekt«, forderte der DFB-Lehrwart und beendete sein Referat mit dem Wunsch: »Fußball ist viel mehr als 90 Minuten. Ich wünsche euch, dass ihr mit Zufriedenheit vom Platz gehen könnt.«
Benjamin Haug lobte den Auftritt von Lutz Wagner als eine Werbung für das Schiedsrichterwesen und einen Highlight-Abend für seine Schiedsrichtergruppe. Gleichzeitig machte er Werbung für die nächste Schulung am 2. Dezember in Gültlingen. »Helft alle mit, wir haben zu wenig Personal.« Er befürchtet, dass er in der Rückrunde 30 Prozent der Spiele im Männerbereich nicht mehr besetzen kann.
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